Mit körperlichen Zweifeln lässt sich prima Geld verdienen. Perfektionismus ist eine Art neue Religion, Selbstoptimierung ihr Dogma und Gesundheit ihr Glaubensbekenntnis: Hauptsache gesund!
Körperliche ZweifelNeulich bin ich in einer Bahnhofsbuchhandlung gewesen. Ich hatte eine längere Zugfahrt vor mir und wollte mir für die weite Reise mal wieder einen neuen Schmöker leisten. Ich verließ den Laden jedoch wieder, ohne etwas gekauft zu haben. Das ist ungewöhnlich für mich, denn normalerweise lese ich von Romanen, über Sachbücher bis hin zu Gebrauchsanweisungen dankbar alles, was mir in die Hände fällt. Wie es dazu kam, möchte ich heute erzählen.
Schon der erste Bestseller-Verkaufstisch im Geschäft verwirrte mich zutiefst: Ketogene Diäten, Paläo-Ernährung, Veganismus; Trennkost, Schluss mit Laktose, Cholesterin, Zucker, you name it! Daneben: Fit für den Marathon in 5 Schritten, Weg mit dem Winterspeck, die Sommer-Typ-Beratung, Be your best self, Alles für die Gesundheit... Wieder ein Tisch weiter: Sei dein eigener Chef!, Strategien Mentaler Stärke, In 10 Schritten zum Erfolg…
Es ist gar nicht so einfach, sich dem überall grassierenden Selbstoptimierungstrend zu entziehen. Dahinter steckt schließlich ein riesiger Markt. In der Werbung des Vorabendprogramms versuchen kerngesunde Schauspieler mit Idealkörpern uns Mittel gegen Kopfschmerzen, Falten und Sodbrennen oder für mehr Leistungsstärke und Konzentration zu verkaufen. Einen Kanal weiter hat Heidi Klum kein Foto für eine 16 jährige, die zwar schlank ist, sich nun aber attestieren lassen muss, dass sie nicht richtig laufen kann. Wenn man die Glotze ausstellt und sich an den Computer setzt, sind Facebook, Instagramm und Youtube voll von selbsternannten Life-Style Experten, die bestrebt sind mich auf den neuesten Stand in Sachen Mode, Ernährung und Sport der Saison zu bringen. Dabei werde ich das Gefühl nicht los, dass der kleinste gemeinsame Nenner dieser Selbstdarsteller wahrscheinlich der Versuch ist, durch ihre akribischen Versuche der Selbstperfektionierung der eigenen Durchschnittlichkeit zu entkommen.
Ich finde das alles ziemlich seltsam. Schließlich sind Begriffe wie Effizienz, Optimierung und Leistungssteigerung auf industrielle Maschinen zugeschnitten. Der Gesundheits-, Schönheits- und Fitness-Markt hat sie sich eigentlich bloß als Metapher ausgeliehen. Seit einiger Zeit habe ich den Eindruck, dass die Prediger der großen Life-Style-Religionen diese Worte immer selbstverständlicher verwenden: Be you best self! Man or Machine?
Kerngesunde Menschen verkabeln sich mit I-Watches und Fitnesstrackern wie Schwerstkranke Patienten auf der Intensivstation. Hinter der Vermessung der eigenen Leistungsfähigkeit steckt sicher der Spaß daran, über sich hinauszuwachsen, der Reiz des Kompetitiven, wie es im Sport und in kapitalistischen Marktwirtschaften üblich ist. Hinter diesem Kick verbirgt sich dieses verlockende Suchtpotential, dem man sich nur schwer entziehen kann, dieser Wunsch, die eigene Lebensqualität durch Normierungen messbar zu machen, um den Beweis zu haben, dass das eigene Leben besser ist als – ja was eigentlich? Und was geschieht, wenn die eigene Leistungsfähigkeit den Zenit erreicht hat? Was wenn man auf der Spitze angekommen ist und nicht mehr besser, schneller, schöner, schlauer oder gesünder werden kann? Und was, wenn die anderen einen plötzlich überholen? Wo bleibt dann die Lebensqualität? Wo das Glück?
Die Grundhaltung, die ich hinter diesem Gesundheitswahn vermute, ist schlicht die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit. Doch ist es nicht absurd, aus Angst vor dem Tod auf den eigenen sterblichen Körper zu setzen? Der Versuch die eigene Lebensqualität anhand körperlicher Daten messbar zu machen, befeuert dabei die Selbstoptimierungsindustrie mit ihren Ratgebern, Beautyprodukten, Aufputschmitteln und Messinstrumenten noch weiter. Mit körperlichen Zweifeln lässt sich prima Geld verdienen. Perfektionismus ist eine Art neue Religion, Selbstoptimierung ihr Dogma und Gesundheit ihr Glaubensbekenntnis: „Hauptsache gesund!“ Und während ihre Anhänger immer fitter werden, verschiebt sich die Messlatte dessen, was als Standard gilt, immer weiter nach oben. Während die Fitnessjünger vor dem Tod und dem Altern davon rennen, werden sie also immer schneller, und am Ende – Spoiler alltert! – doch eingeholt. Vielleicht nicht mir 60, sondern mit 120 Jahren, aber es bleibt ein Rennen zwischen Hase und Igel.
Auch ich habe mich bereits mehrfach ausmessen lassen, jedoch nicht freiwillig. Noch bevor ich 20 Jahre alt war, wurde bei mir eine Colitis Ulcerosa diagnostiziert. Mit 21 bekam ich meinen ersten MS-Schub, mit 27 Sepsis und ein Illeostoma. Meine medizinischen Messergebnisse waren also meistens mehr als unterdurchschnittlich und weit entfernt vom Optimum. Wenn sich aber Lebensqualität über die Unversehrtheit und Leistungsfähigkeit eines Körpers messen lässt, müsste ich dann nicht konsequenter Weise in den letzten 10 Jahren furchtbar unglücklich gewesen sein? Wie kommt es dann, dass ich trotzdem eigentlich ganz zufrieden bin?
Viele Chronisch-Erkrankte werden das kenne: Gutgemeinte Ratschläge Dritter zu Lebensführung, Ernährung, Stressbewältigung und eigentlich allen weiteren Punkten, die ich auch in den Ratgebern in der Bahnhofsbuchhandlung hätte nachschlagen können. Auch wenn ich die gutgemeinte Geste dahinter erkennen kann, stoße ich mich oft an ihr. Was mich vor allem stört, ist der unumstößliche Gestaltungsglaube, den diese Menschen an ein planbares Leben haben. In dieser Vorstellung stoßen einem Patienten seine Krankheiten nicht einfach zu. Mit der richtigen Lebensführung sind sie sogar vermeidbar. Diese Ratgeber bewegen sich auf einem schmalen Grad zwischen hilfreichen Tipps zum Krankheitsmanagement und den Abgründen der Ursachensuche, in dessen Tiefen der Schuldvorwurf lauert: Wenn du anders gelebt hättest, wenn du an die Bibeln der Gesundheitsapostel geglaubt und danach gehandelt hättest, dann könntest du jetzt noch gesund sein.
Habe ich mich stets ausgewogen ernährt? Ausreichend bewegt? Körper, Geist und Psyche trainiert? – Sicherlich nicht. Aber meine im „gesunden Ausmaß“ gelassene Einstellung zu Gesundheitsparadigmen wird wohl schwerlich dafür verantwortlich sein, so früh chronisch erkrankt zu sein. Und auch wenn ich nicht über alles, was mir in meinem Leben widerfahren ist, furchtbar glücklich bin, bin ich sicherlich kein unglücklicher Mensch – ganz im Gegenteil. Auch gesunde Menschen fühlen sich doch meisten dann, wenn sie nach einer durchzechten Nacht mit guten Freunden, guten Getränken und guten Gesprächen mit einem Kater aufwachen, zwar krank aber glücklich. Glückliche Momente, genauso wie Krankheiten und Naturkatastrophen stoßen einem einfach zu. Manchmal kann man sie bändigen oder herbeiführen, aber verhindern kann man sie nicht. Ihre Existenz ist einfach ein Teil unserer Realität mit dem wir uns abfinden müssen. Bei solcherlei Grenzerfahrungen stößt auch menschlicher Gestaltungswille an seine Grenzen. Und meistens ist die Erfahrung menschlicher Existenz in solchen Momenten am intensivsten. Mein Stoma ist in vielerlei Hinsicht ein sichtbarer körperlicher Makel und Antithese des Optimalen. Aber die Grenzerfahrung des Krankseins hat mich mit einer riesigen Demut vor der Unberechenbarkeit meines Lebenswegs, manche nennen es Zufall, erfüllt.
Wie bereits erwähnt verließ ich die Bahnhofsbuchhandlung unverrichteter Dinge. Mittlerweile war ich zwar spät dran, aber 5 Minuten blieben mir noch. Unterwegs zum Zug kaufte ich mir also noch eine Dose Bier und ein Leberkäs-Semmel. Im Zug angekommen fand ich einen Fensterplatz mit Tisch. Als ich mich bückte, um meine Tasche unter den Sitz zu schieben, fand ich einen 5 Euro-Schein auf dem Boden. Ich hob ihn auf und gerade als ich mich setzen wollte, stellte ich fest, dass auf dem Sitzplatz neben mir mein alter Schulfreund, nenne wir ihn Fritz, saß, den ich seit Ewigkeiten nichtmehr gesehen hatte und mit dem ich für die nächsten 5 Stunden in alten Erinnerungen schwelgen konnte.
So ein Zufall! Manchmal stößt Glück einem einfach zu, ohne dass man darauf vorbereitet ist.
Schon der erste Bestseller-Verkaufstisch im Geschäft verwirrte mich zutiefst: Ketogene Diäten, Paläo-Ernährung, Veganismus; Trennkost, Schluss mit Laktose, Cholesterin, Zucker, you name it! Daneben: Fit für den Marathon in 5 Schritten, Weg mit dem Winterspeck, die Sommer-Typ-Beratung, Be your best self, Alles für die Gesundheit... Wieder ein Tisch weiter: Sei dein eigener Chef!, Strategien Mentaler Stärke, In 10 Schritten zum Erfolg…
Es ist gar nicht so einfach, sich dem überall grassierenden Selbstoptimierungstrend zu entziehen. Dahinter steckt schließlich ein riesiger Markt. In der Werbung des Vorabendprogramms versuchen kerngesunde Schauspieler mit Idealkörpern uns Mittel gegen Kopfschmerzen, Falten und Sodbrennen oder für mehr Leistungsstärke und Konzentration zu verkaufen. Einen Kanal weiter hat Heidi Klum kein Foto für eine 16 jährige, die zwar schlank ist, sich nun aber attestieren lassen muss, dass sie nicht richtig laufen kann. Wenn man die Glotze ausstellt und sich an den Computer setzt, sind Facebook, Instagramm und Youtube voll von selbsternannten Life-Style Experten, die bestrebt sind mich auf den neuesten Stand in Sachen Mode, Ernährung und Sport der Saison zu bringen. Dabei werde ich das Gefühl nicht los, dass der kleinste gemeinsame Nenner dieser Selbstdarsteller wahrscheinlich der Versuch ist, durch ihre akribischen Versuche der Selbstperfektionierung der eigenen Durchschnittlichkeit zu entkommen.
Ich finde das alles ziemlich seltsam. Schließlich sind Begriffe wie Effizienz, Optimierung und Leistungssteigerung auf industrielle Maschinen zugeschnitten. Der Gesundheits-, Schönheits- und Fitness-Markt hat sie sich eigentlich bloß als Metapher ausgeliehen. Seit einiger Zeit habe ich den Eindruck, dass die Prediger der großen Life-Style-Religionen diese Worte immer selbstverständlicher verwenden: Be you best self! Man or Machine?
Kerngesunde Menschen verkabeln sich mit I-Watches und Fitnesstrackern wie Schwerstkranke Patienten auf der Intensivstation. Hinter der Vermessung der eigenen Leistungsfähigkeit steckt sicher der Spaß daran, über sich hinauszuwachsen, der Reiz des Kompetitiven, wie es im Sport und in kapitalistischen Marktwirtschaften üblich ist. Hinter diesem Kick verbirgt sich dieses verlockende Suchtpotential, dem man sich nur schwer entziehen kann, dieser Wunsch, die eigene Lebensqualität durch Normierungen messbar zu machen, um den Beweis zu haben, dass das eigene Leben besser ist als – ja was eigentlich? Und was geschieht, wenn die eigene Leistungsfähigkeit den Zenit erreicht hat? Was wenn man auf der Spitze angekommen ist und nicht mehr besser, schneller, schöner, schlauer oder gesünder werden kann? Und was, wenn die anderen einen plötzlich überholen? Wo bleibt dann die Lebensqualität? Wo das Glück?
Die Grundhaltung, die ich hinter diesem Gesundheitswahn vermute, ist schlicht die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit. Doch ist es nicht absurd, aus Angst vor dem Tod auf den eigenen sterblichen Körper zu setzen? Der Versuch die eigene Lebensqualität anhand körperlicher Daten messbar zu machen, befeuert dabei die Selbstoptimierungsindustrie mit ihren Ratgebern, Beautyprodukten, Aufputschmitteln und Messinstrumenten noch weiter. Mit körperlichen Zweifeln lässt sich prima Geld verdienen. Perfektionismus ist eine Art neue Religion, Selbstoptimierung ihr Dogma und Gesundheit ihr Glaubensbekenntnis: „Hauptsache gesund!“ Und während ihre Anhänger immer fitter werden, verschiebt sich die Messlatte dessen, was als Standard gilt, immer weiter nach oben. Während die Fitnessjünger vor dem Tod und dem Altern davon rennen, werden sie also immer schneller, und am Ende – Spoiler alltert! – doch eingeholt. Vielleicht nicht mir 60, sondern mit 120 Jahren, aber es bleibt ein Rennen zwischen Hase und Igel.
Auch ich habe mich bereits mehrfach ausmessen lassen, jedoch nicht freiwillig. Noch bevor ich 20 Jahre alt war, wurde bei mir eine Colitis Ulcerosa diagnostiziert. Mit 21 bekam ich meinen ersten MS-Schub, mit 27 Sepsis und ein Illeostoma. Meine medizinischen Messergebnisse waren also meistens mehr als unterdurchschnittlich und weit entfernt vom Optimum. Wenn sich aber Lebensqualität über die Unversehrtheit und Leistungsfähigkeit eines Körpers messen lässt, müsste ich dann nicht konsequenter Weise in den letzten 10 Jahren furchtbar unglücklich gewesen sein? Wie kommt es dann, dass ich trotzdem eigentlich ganz zufrieden bin?
Viele Chronisch-Erkrankte werden das kenne: Gutgemeinte Ratschläge Dritter zu Lebensführung, Ernährung, Stressbewältigung und eigentlich allen weiteren Punkten, die ich auch in den Ratgebern in der Bahnhofsbuchhandlung hätte nachschlagen können. Auch wenn ich die gutgemeinte Geste dahinter erkennen kann, stoße ich mich oft an ihr. Was mich vor allem stört, ist der unumstößliche Gestaltungsglaube, den diese Menschen an ein planbares Leben haben. In dieser Vorstellung stoßen einem Patienten seine Krankheiten nicht einfach zu. Mit der richtigen Lebensführung sind sie sogar vermeidbar. Diese Ratgeber bewegen sich auf einem schmalen Grad zwischen hilfreichen Tipps zum Krankheitsmanagement und den Abgründen der Ursachensuche, in dessen Tiefen der Schuldvorwurf lauert: Wenn du anders gelebt hättest, wenn du an die Bibeln der Gesundheitsapostel geglaubt und danach gehandelt hättest, dann könntest du jetzt noch gesund sein.
Habe ich mich stets ausgewogen ernährt? Ausreichend bewegt? Körper, Geist und Psyche trainiert? – Sicherlich nicht. Aber meine im „gesunden Ausmaß“ gelassene Einstellung zu Gesundheitsparadigmen wird wohl schwerlich dafür verantwortlich sein, so früh chronisch erkrankt zu sein. Und auch wenn ich nicht über alles, was mir in meinem Leben widerfahren ist, furchtbar glücklich bin, bin ich sicherlich kein unglücklicher Mensch – ganz im Gegenteil. Auch gesunde Menschen fühlen sich doch meisten dann, wenn sie nach einer durchzechten Nacht mit guten Freunden, guten Getränken und guten Gesprächen mit einem Kater aufwachen, zwar krank aber glücklich. Glückliche Momente, genauso wie Krankheiten und Naturkatastrophen stoßen einem einfach zu. Manchmal kann man sie bändigen oder herbeiführen, aber verhindern kann man sie nicht. Ihre Existenz ist einfach ein Teil unserer Realität mit dem wir uns abfinden müssen. Bei solcherlei Grenzerfahrungen stößt auch menschlicher Gestaltungswille an seine Grenzen. Und meistens ist die Erfahrung menschlicher Existenz in solchen Momenten am intensivsten. Mein Stoma ist in vielerlei Hinsicht ein sichtbarer körperlicher Makel und Antithese des Optimalen. Aber die Grenzerfahrung des Krankseins hat mich mit einer riesigen Demut vor der Unberechenbarkeit meines Lebenswegs, manche nennen es Zufall, erfüllt.
Wie bereits erwähnt verließ ich die Bahnhofsbuchhandlung unverrichteter Dinge. Mittlerweile war ich zwar spät dran, aber 5 Minuten blieben mir noch. Unterwegs zum Zug kaufte ich mir also noch eine Dose Bier und ein Leberkäs-Semmel. Im Zug angekommen fand ich einen Fensterplatz mit Tisch. Als ich mich bückte, um meine Tasche unter den Sitz zu schieben, fand ich einen 5 Euro-Schein auf dem Boden. Ich hob ihn auf und gerade als ich mich setzen wollte, stellte ich fest, dass auf dem Sitzplatz neben mir mein alter Schulfreund, nenne wir ihn Fritz, saß, den ich seit Ewigkeiten nichtmehr gesehen hatte und mit dem ich für die nächsten 5 Stunden in alten Erinnerungen schwelgen konnte.
So ein Zufall! Manchmal stößt Glück einem einfach zu, ohne dass man darauf vorbereitet ist.
Annika